„Leben in der Utopie - Der Alltag in einem verschwundenen Staat“
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Vernissage mit dem Fotographen und Medienproduzenten Siegfried Wittenburg in der Kollegskirche der Bischof-Neumann-Schule in Königstein am 9. November 2023
Am Donnerstag, dem 9. November 2023, eröffnete der Fotografiker Siegfried Wittenburg in Gegenwart von 200 Schülerinnen und Schülern der Bischof-Neumann-Schule sowie Lehrkräften und externen Gästen die Ausstellung „Leben in der Utopie – Der Alltag in einem verschwundenen Staat“.
Die Veranstaltung, welche in Kooperation mit der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung stattfand, wurde mit den Redebeiträgen von Jens Henninger, Schulleiter der Bischof-Neumann-Schule, und Ulrike Naumann als Repräsentantin der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung eröffnet. Beide bezogen sich in ihren Reden explizit auf den Kontext des 9. November als einem „Schicksalstag deutscher Geschichte“, wie Jens Henninger hervorhob. Erinnern und Gedenken solle nicht formal-ritualisiert, sondern mit Leben erfüllt sein, denn es gehe „nicht um die Vergangenheit, sondern um die Zukunft“, so Henninger. Dass mit diesem Datum dunkelste Momente deutscher Geschichte vor dem Hintergrund der Pogromnacht 1938 neben die Erfahrung der Befreiung von einem unmenschlichen Grenzregime im Jahre 1989 rücken, unterstrich Ulrike Naumann. Sie schilderte auch persönliche Erfahrungen, welche sie in ihrer Kindheit als Besucherin der DDR bei Grenzkontrollen sammelte, und die sie in ihrer Erinnerung stets als mit dem Gefühl der Angst verbunden wahrnehme. Eine Empfindung, auf die sich Siegfried Wittenburg nach seiner Begrüßung der Anwesenden direkt bezog: Menschen in Unsicherheit und Angst zu versetzen, sei in der DDR als ein Mittel der Kontrolle und Unterdrückung der eigenen Bevölkerung eingesetzt und durch staatliche Organe wie die Stasi planvoll umgesetzt worden.
Wittenburg, der 1952 in Warnemünde geboren wurde, erwarb nach einer Ausbildung als Funkmechaniker autodidaktisch seine fotografischen Fertigkeiten und Kenntnisse. In der DDR geriet er mit seinen Ausstellungen, welche in ungebrochener Weise den Lebensalltag der Menschen vor dem Hintergrund von Themen wie Mangelwirtschaft, Armut und Unzufriedenheit darstellten, ins Visier des Ministeriums für Staatssicherheit, das ihn langjährig observieren ließ. Nach der Wende, welche er als anspruchsvollen Transformationsprozess erlebte, den er trotz aller erfahrenen Mühen und Herausforderungen nicht missen wolle, arbeitete er als Manager, Medienproduzent und freiberuflicher Fotograf, dessen Bilder heute international ausgestellt werden. Den Alltag der Menschen in der DDR als Zeitzeuge Schülerinnen und Schülern nahezubringen, stellt für ihn ein wichtiges Anliegen dar, dem er seit 2014 nachgeht.
Oft, so Wittenburg im Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern der Bischof-Neumann-Schule, sei er gewarnt worden, mit seinen drastisch-wirklichkeitsgetreuen Abbildungen die Aufmerksamkeit der DDR-Ordnungsbehörden auf sich zu ziehen. Ein nicht sehr fern liegender Gedanke, wie sich für den Künstler herausstellen sollte, als er nach der Wende die Gelegenheit erhielt, Einsicht in seine eigenen Stasi-Unterlagen zu nehmen. „Mein Leben war ein Drahtseilakt“, so der Fotograf. Die Organe der Staatssicherheit hatten, wie sich nun herausstellte, eine pedantisch geführte Akte angelegt, welche ihn schwer, wenn auch nicht eindeutig genug belastete, um ihn als, so der Jargon des Regimes, „Staatsfeind“ zu klassifizieren. Man habe als Kunstschaffender stets wissen müssen, „wie weit man zu weit gehen darf.“ Er selbst habe dies erfahren, als ihm die Kulturkammer der DDR in der Folge seiner 1986 in Warschau gezeigten Ausstellung ohne eine nähere Begründung die Leitung des Warnemünder Fotozirkels entzogen habe.
Ausführlich erzählte Wittenburg nicht nur aus seiner eigenen Biographie, wie z.B. den Erfahrungen mit den DDR-Jugend- und Massenorganisationen, dem auf verschiedenen Ebenen vorherrschenden Zwang zur Anpassung, sondern auch von den Möglichkeiten zur unangepassten Entwicklung. So erklärte er, dass die Produktivität des Warnemünder Fotozirkels unter seiner Leitung vor allem davon gelebt habe, dass dieser „immer ein freier Raum“ gewesen sei. Man habe, so der Künstler, „schließlich nichts weiter als Realität abgebildet.“
Im Rückbezug auf die Grußworte appellierte er insbesondere an die junge Generation der anwesenden Schülerinnen und Schüler, sich in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit nicht von Angst beherrschen zu lassen. Denn dieses Gefühl, so Wittenburg, sei es, worauf nicht alleine in der SED-Diktatur, sondern auch heute oftmals der fragwürdige Erfolg von Demagogen beruhe.
Wie auch im Kontext der Schrecken der Pogromnacht so rief Wittenburg bei den Anwesenden den zentralen Gedanken einer lebendigen Erinnerungskultur wach, nämlich dass der aus dem Blick auf die Vergangenheit entstandene Ruf „nie wieder“ heute stattfinden muss.
Die Fotografien Siegfried Wittenburgs stellen in ihrem unkorrumpierten Realitätsbezug nicht alleine ein mutiges Zeugnis der Vergangenheit dar, sondern sind auch ein Schlüssel zur Vergegenwärtigung von Geschichte, zur Gestaltung des „heute“ und unserer Zukunft.
Die Ausstellung „Leben in der Utopie“ wird noch bis zum 22. November 2023 (geöffnet von Montag bis Freitag, von 8:00 Uhr bis 18:00 Uhr sowie am Sonntag, dem 19. November, von 11:00 Uhr bis 17:00 Uhr) in der Kollegskirche der Bischof-Neumann-Schule, Bischof-Kindermann-Straße 11 in Königstein zu sehen sein.